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Breathing underwater – 365 Tage später

In diesen Tagen ist es genau 365 Tage her, dass mein Leben einmal komplett auf den Kopf gestellt wurde. In meiner Zeitrechnung spreche ich oft von der Zeit, als mein Leben noch in Ordnung war – vor dieser Zeit – und dem Leben ab Oktober 2016.

Ich weiß noch sehr genau wie in einer Samstagnacht das Telefon klingelte und ich die Nachricht bekam, dass meine Mami mit Verdacht auf eine allergische Reaktion ins Krankenhaus gebracht wurde. Ehrlich gesagt, sind nächtliche Anrufe schon seit meiner frühen Kindheit ein Trauma. Die Nachricht über den Tod meines Vaters erhielten wir auf ähnliche Weise. Aber wahrscheinlich geht das jedem Menschen so. Was soll auch schon positives morgens um 4 Uhr am Telefon mitgeteilt werden…

Ab dieser Nacht herrschte Ausnahmezustand. Die Maschinerie Diagnostik begann und es kristallisierte sich sehr schnell heraus, dass es sich hier nicht um eine leichte Erkrankung handelte. Eine Hiobsbotschaft jagte die Nächste. Es muss ungefähr eine Woche später gewesen sein, als wir die Diagnose metastasierter Lungenkrebs in unser Leben einbinden mussten. Es sollte allerdings noch weitere 4 Wochen dauern bis uns das erschütternde Ausmaß mitgeteilt wurde. In dieser Zwischenzeit rotierten wir nur mit dem Ziel die aktuelle Symptomatik zu bekämpfen, die bestmögliche Versorgung sicherzustellen und einfach zu kämpfen. Es konnte nicht das Ende sein. Durfte es einfach nicht.

Auch 365 Tage später kann ich immer noch nicht greifen wie schnell das alles ging. Auch wenn es meiner Mami davor schon nicht gut ging – so hat sie doch am normalen Alltag teilgenommen. Ein “gesunder” Mensch wird ins Krankenhaus gebracht und baut körperlich innerhalb weniger Wochen so extrem ab. Ich weiß, dass das kein Einzelphänomen ist – sobald Menschen mit dem Wissen um ihre Krankheit konfrontiert werden, schlägt der Krebs erst richtig zu. Totzdem ist es krass. Einfach krass.

Es muss Anfang November gewesen sein, als uns bewußt wurde, dass all das keinen positiven Ausgang nehmen wird. Es gab kein ärztliches Aufklärungsgespräch dazu. Ich weiß noch sehr genau, wie ich am Bett meiner Mami saß und sie mir den offiziellen Arztbrief zeigte. Die Infos waren nicht neu für mich, aber enthielten Details die ich als Nicht-Mediziner nicht direkt einordnen konnte. Ich teilte diese Infos später an diesem Tage mit sehr engen Vertrauten, die eben den notwendigen medizinischen Background hatten. Und ja, ich würde lügen, wenn ich sage, dass mich die Rückmeldungen überrascht hätten. Tief im Inneren war mir all das schon klar. Meine Mum wird an dieser Diagnose sterben. Der Zeithorizont riß mir allerdings den Boden unter den Füßen weg: Ein paar Monate – vielleicht ein Jahr:

 

“Es kommt darauf an, wie es ihr geht. Man kann in solchen Fällen keine Aussagen über die Zeit treffen.”

 

Diese Aussage einer engen Freundin ist hängen geblieben. Nach vielen weiteren Gesprächen im Krankenhaus wurde deutlich, wir müssen gemeinsam einen Weg finden, diese letzte Zeit zu begleiten. Die Selbstversorgung mit “etwas” Unterstützung war schon Ende Oktober nicht mehr realistisch. Und ja, wir haben es probiert. Für meine Schwester und mich war klar, eine allumfassende und vor allem würdige Lösung musste gefunden werden. Nach vielen Diskussionen, Drehungen und Wendungen entschloßen wir uns als Familie für das Hospiz Leuchtfeuer. Auch heute – knapp 365 Tage später bin ich so unfassbar dankbar, dass es diesen Ort gibt. Diese Menschen verdienen einen Orden – ernsthaft. So viel Wärme, Ruhe und Umsorgung. Ein Ort, der keine Angst vor dem Tod macht, sondern ihn würdig in den Alltag integriert. Aber natürlich war der Einzug meiner Mami ins Hospiz ein extremer Schritt.

Meine Mami hat diesen Ort nie ganz als das akzeptiert, was es ist. Selbstschutz, Hoffnung oder Verdrängung – ich werde es wohl niemals ganz genau wissen. Ich akzeptiere es, wenn es die Gesamtsituation oft auch schwierig gemacht hat. Das Bild, was man sich von einer derartigen Abschiedszeit im Kopf zeichnet, ist nämlich falsch. Es gibt keine rosa Wolke, in der sich alle in den Armen liegen und liebe Dinge anvertrauen; die Vergangenheit aufarbeiten und alles andere unwichtig erscheint. Der Alltag ist auch in dieser Zeit vertreten. Die Diskussionen und Probleme bleiben die Gleichen. Es ist teilweise absurd, gar makaber und manchmal musste ich auch einfach nur gedanklich ausbrechen, weil untragbar. Rückblickend weiß ich nicht genau, wie ich in dieser Zeit überhaupt noch andere Dinge bewältigen konnte. Ich habe einfach funktioniert…

 

…und ich habe eine begleitende Psychotherapie begonnen.

 

Meine Angst durch diese Zeit langfristig seelischen Schaden zu nehmen war so groß, dass ich diesen Schritt gehen wollte. Mir ist durchaus bewußt, dass ich damit ein weiteres sehr privates Detail hier preisgebe und ich habe mich mit der Entscheidung schwer getan. Denn bei all der propagierten Offenheit in unserer Gesellschaft – eine Therapie ist nach wie vor ein kleines Stigma. Dabei sollte es das nicht sein. Jeder Mensch sollte es versuchen. Ich habe in diesem halben Jahr mit all den Umbrüchen und Ausnahmezuständen so viel über mich als Persönlichkeit gelernt, wie in keiner Zeit zuvor. Ich verstehe mich selber viel besser – mein Verhalten, meine Entscheidungen und Wünsche. Was sich wiederum auch auf alle anderen menschlichen Beziehungen auswirkt. In Kurzform: Es war die beste Entscheidung, die ich treffen konnte.

Neben der eigenen Umgehenweise mit einer familiären Ausnahmesituation gehört aber ebenso essentiell das nahe Umfeld dazu. Ich bin gesegnet mit unfassbar tollen Freunden, einer kleinen, aber dafür umso stärkeren Familie und einem Arbeitgeber, der mir in all den Monaten den Rücken freigehalten hat. Das ist nicht selbstverständlich und deswegen möchte ich mich auch noch einmal auf diesem Wege bedanken. Ich weiß das zu schätzen.

 

Meine Mami ist am 23.06.2017 eingeschlafen. Sie war ein wirkliches Kämpferherz. Immer.

 

Während ich hier so in meinem Bett am Samstagmorgen liege, diese Zeilen tippe und meinen ersten Kaffee genieße, merke ich, dass ich eigentlich noch so viel mehr über diese Monate schreiben könnte. Es gibt so viele Geschichten, die erzählt werden sollten. Die mich geprägt; mich schockiert – aber auch erfüllt haben. Für den Moment reicht mir dieser kurze Rückblick. Erst kürzlich stolperte ich über den wundervollen Song von Emeli Sandé “Breathing underwater” , der das komplexe Gefühl beschreibt, dass mich derzeit oft begleitet und umgibt. Ein Mix aus Trauer, Liebe, Erleichterung und Hoffnung. Somit schließe ich diesen Einblick mit ihren schönen Worten und wünsche ein zauberhaftes Wochenende 🙂

 

And it’s safe to say the storms gone away
And I’m dancing on the morning after
Yes I’d love to stay, but my home’s the other way
And I miss the love and laughter

Something like flying
Hard to describe it
My God, I’m breathing underwater
Something like freedom, freedom
My God, I’m breathing underwater

Every moon and every star
Knows who you are, you know
So ever if gets too dark
You never are alone

 

9 Comments

  • Sandra Matteotti

    30. September 2017 at 12:09

    Ich stiess über Instagram auf diesen Beitrag hier und wollte ihn nicht einfach lesen und stillschweigend wieder gehen.

    Danke für deine Offenheit, Hut ab vor deinem Mut, diese zu haben. Ich verstehe nur gut, was du meinst mit dem nächtlichen Anruf. Habe ich auch erlebt und es trifft direkt in die Magengrube.

    Ich finde es stark, dass du die Hilfe geholt hast, dass du zu dir selber Sorge trägst. Und ich hoffe und wünsche mir, dass ganz viele, die an ähnlichen Punkten sind und das lesen, sehen: Das ist ein guter Weg, einer, der wichtig ist. Ja, man denkt immer, es sei ein Stigma, therapiert zu werden. Man fürchtet, schwach gesehen zu werden. Ich sehe das anders.

    Ich wünsche dir alles Liebe!

    Liebe Grüsse
    Sandra

    Antworten
  • Timo

    30. September 2017 at 13:02

    Auch wenn ich bisher nur ein bisschen deine Wohnungsfotos verfolgte, hat mich dieser Post berührt.
    Ich musste in meinen jungen Jahren auch schon harte Schicksalsschläge einstecken und konnte nur zu gut nachvollziehen, wie du dich fühlen musstest.
    Zu irgendwas muss es gut sein, denke ich mir immer. Sonst wüsste ich manchmal auch nicht weiter.
    Dir ein schönes Wochenende,
    Timo, 29 aus Hamburg

    Antworten
  • Marion

    30. September 2017 at 13:13

    Ich kann so gut nachvollziehen was in dir vorging/vorgeht.
    Ich habe meine Mutter und meinen Vater verloren durch Krebs und zu guter letzt meinen Bruder. Den habe ich auch vier intensive Wochen im Hospitz beim “sterben” begleitet.
    Ich habe auch so viel gelernt in dieser Zeit, über mich und das Leben. Ich habe oft mit dem Gedanken gespielt mir provessionelle Hilfe zu holen… Mit hilfe meiner /unseren auch sehr kleinen Familie und guten Freunden habe ich es aber gut verarbeiten können. Es gibt immer die Momente wo die Trauer aus heiterem Himmel zuschlägt. Aber das ist normal und ich kann es zulassen mittlerweile. Es war ein langer Weg und der ist es immer noch. Aber Tod und Trauer gehören zum Leben. Ich finde es toll und mutig das diese Erlebnisse teilst. Den sie dürfen kein Tabu Thema sein. Du bist eine tolle Frau, man merkt das du immer mehr mit dir im reinen bist und dein Leben lebst und liebst. Lass dich nicht beirren und mach weiter so! Ich wünsche dir weiterhin viel Kraft. Liebe Grüße aus dem Ruhrgebiet nach Hamburg, Marion

    Antworten
  • Ulrike

    30. September 2017 at 14:44

    Liebe Jenny,
    du hast da etwas wirklich schönes geschrieben und ich finde es schön das du privates „rauslässt“.
    Ich gebe dir recht, manchmal ist es schwierig abzuwägen ob etwas privates, so persönliches, nach außen getragen werden sollte oder besser nicht. Mit dem Tod deiner Mama wirst du immer zu tun haben, mal mehr, mal weniger, mal ist es die Trauer über ihren Tod und ein anderes mal liegst du lachend auf dem Boden weil dir ein lustiges Foto in die Hände gefallen ist oder du in einer Situation bist über die deine Mama gelacht hätte und dann musst du auch schmunzeln.
    Ich habe damals meiner Oma das Gesicht gestreichelt als sie gestorben ist, sie war mir immer näher als meine Mama und ich hatte schwer mit dieser Situation zu tun. Anfangs dachte ich es geht vorbei aber so war es nicht. Ich habe mir dann auch Hilfe gesucht und habe viele Gespräche geführt, intensive und schmerzhafte, schöne und nicht so schöne Gespräche.
    Diese Gespräche haben mir sehr geholfen, mich gestärkt und weiter vorangetrieben, ich habe mich verändert. Inzwischen gehe ich mit vielen Dingen und Situationen anders um oder betrachte vieles auch von einer anderen Seite.
    Dieses Jahr ist meine andere Oma verstorben und kurz darauf eine Freundin. Meine Oma ist sehr alt geworden, meine Freundin hat den Kampf mit dem Krebs verloren. Mit dem einen komme ich ganz gut zurecht, mit dem anderen nicht und habe mir wieder Hilfe geholt. Wir arbeiten es zusammen auf und inzwischen geht es wieder besser, bis wir vor ein paar Wochen die Diagnose „ schwere Form der Demenz“ bei meinem Papa erhalten haben, wieder ein Schlag in die Magengrube.
    Er selber hat es schon länger gemerkt und wirklich gut überspielt, bis es eben nicht mehr funktioniert hat. Wir haben auch festgestellt „Mensch, der Paps wird tüddelig“ aber er ist 73 Jahre alt, da darf man tüddelig werden. Leider ging es weit über Alterstüddeligkeit hinaus und es belastet inzwischen die ganze Familie. Bislang wohnt er noch zu Hause und meine Mama kümmert sich aber auch sie geht mittlerweile nervlich am Stock und wir haben jetzt gemeinsam beschlossen uns um eine Pflegestelle zu kümmern. Es ist uns nicht leicht gefallen und es soll, zumindest vorerst, nur um Tagespflege gehen. Meine Mutter braucht Luft und meinem Papa wird die Abwechslung gut tun. Wie lange es mit der Tagespflege reicht wissen wir allerdings nicht, denn es schreitet recht schnell voran.
    Ich habe mir auch jetzt wieder Hilfe geholt und es tut mir gut, es ist nicht einfach aber ich kann mit der Situation inzwischen ganz gut umgehen und meiner Mutter und meiner Schwester unter die Arme greifen.
    Ich merke aber wie mich jede neue Situation verändert, wie ich mit den Aufgaben wachse, wie sie mich stärken, auch wenn mich vieles runterzieht, ich gehe offener mit vielen Dingen um und stoße auf positive Resonanz.
    Die nächste Zeit wird nicht einfach aber ich habe eine großartige Hilfe an meiner Seite und werde ihr ewig dankbar sein.
    Ich wünsche dir von ganzem Herzen ganz viel Kraft und Liebe für die Lebensprüfungen die da noch kommen mögen und finde, auch wenn wir uns gar nicht kennen, du bist ein toller Mensch.
    Fühl dich gedrückt und ganz liebe Grüße, Ulrike

    Antworten
  • herz.mit.liebe

    30. September 2017 at 15:37

    Liebe Jenny,
    Ich danke dir für deine Offenheit und deine ehrlichen Worte. Ich wünsche dir sehr viel Kraft auf deinem Weg. Viele liebe grüße vom Bodensee!

    Antworten
  • Katharina

    30. September 2017 at 21:28

    Auch ich möchte dir sagen, dass dies ein toller Artikel ist. Ich persönlich finde, dass man bei dem Thema garnicht zu persönlich werden kann. Es macht nämlich Mut, zu lesen, was in anderen Menschen vorgeht, Mut aus einer anderen Perspektive auf dieses Thema zu schauen. Ich selbst habe meine Mutter vor 2 Jahren verloren, auch an Krebs, auch nur kurze Zeit nach der Diagnose. Ich kenne die Maschinerie, von der du sprichst, die Hoffnung bis zum letzten Atemzug und die vielen unbeschreiblichen Gefühle, die da in einem Vorgehen. Ich finde es schön zu lesen, dass wir alle mit diesem großen Thema nicht alleine sind und plädiere sowieso für viel mehr Offenheit in diesem leider immer noch tabutesierten Lebensabschnitt. Ich bewundere dich für deine Offenheit und wünsche dir weiterhin alles Gute!

    Antworten
  • Sabrina

    30. September 2017 at 22:19

    An dieser Stelle möchte ich dir D A N K E sagen für diese sehr privaten Einblicke. Deine Geschichte berührt und zeigt einem gleichzeitig wie wichtig es ist das Leben zu genießen! Liebe Grüße!

    Antworten
  • Alexandra

    13. Oktober 2017 at 11:27

    Danke für diesen Einblick! Ich musste die Tränen wirklich unterdrücken. Unglaublich emotional… Es ist bewundernswert, wie du mit dem Ganzen umgegangen bist. Ich wünsche dir und deiner Familie für die Zukunft alles Gute!! Danke, dass du uns hier im oft so anonymen Internet an deinen Erfahrungen teilnehmen lässt! Danke <3

    Antworten
  • Julia

    19. Oktober 2017 at 10:16

    Liebe Jenny,

    dieser Text hat mich zu Tränen gerührt. Ich habe meine Mum verloren, als ich 19 war (sehr plötzlich), das ist jetzt 16,5 Jahre her. Leider habe ich damals keine Therapie gemacht. Ich leide heute noch unter den Folgen und weitere Erfahrungen, z. B. der Krebsleidensweg meiner Oma, haben es nicht besser gemacht. Du machst das genau richtig so! Danke für Deine Offenheit und alles Gute für Dich und Deine Familie.

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